Was Sportdebattierer zu “Contra” sagen

Es war einmalig und wird wohl einmalig bleiben: Mit “Contra” kam 2021 ein deutschsprachiger Debattierfilm in die Kinos– mit Beteiligung auch unserer Szene. Aber wie schaut man als Debattierer auf “Contra”? Wo ist der Film realistisch? Und wo nicht?


Im Finale der Deutschsprachigen Debattiermeisterschaft 2019, im Alten Hörsaal der Uni Heidelberg saßen zwei ungewöhnliche Gäste: Der Regisseur Sönke Wortmann (“Das Wunder von Bern”, “Der Vorname”) und die Schauspielerin Nilam Farooq. In unserer kleinen Hochschuldebattierszene hatte sich längst herumgesprochen: Die beiden bereiteten sich auf den Dreh für “Contra” vor, einer deutschen Adaption des französischen Films “Le Brio” (deutscher Titel: “Die brillante Mademoiselle Neïla”). Einen Film über einen Rede- und Debattierwettbewerb!

In der Szene gab es grob zwei Lager zu dem Projekt. Da waren einerseits die Begeisterten: Einen Film über das Debattieren! In deutschen Kinos! Das werden wir nie wieder haben! Was für eine Ehre! Was eine Chance für unseren Sport, einer breiteren Öffentlichkeit bekannt zu werden! Andererseits waren da die Zurückhaltend-Skeptischen: Debattierfilm schön und gut, aber wer sagt, dass er gut wird?! Soo viele Menschen werden das doch auch wieder nicht sehen. Und selbst wenn, kriegen sie bestimmt ein total unrealistisches, ja vielleicht sogar negatives Bild vom Debattieren.

Ich muss an dieser Stelle beichten, ich zählte mich auch eher zu letzterem Lager. Andere sahen das (gottseidank) anders und engagierten sich für “Contra”. Was wir auch Herrn Wortmann und Frau Farooq zu verdanken hatten, die ja ein nicht selbstverständliches Interesse zeigten, vorab im “realen Debattieren” zu recherchieren. Debattierer berieten beim Film mit, halfen als Rhetoriktrainer. Debattierer bekamen Cameoauftritte.

2020 wurde es dann trotzdem erst einmal still um “Contra”. Statt “Contra” kam Corona in unser Leben, nahm uns unter anderem die Kinobesuche und so wurde der Filmstart verschoben. Am 28. Oktober 2021 war es dann doch endlich soweit. Somit kommt dieser Artikel auch eigentlich sehr spät. Insgesamt rund 750.000 Menschen haben “Contra” bereits gesehen.

Farooq und Wortmann (Mitte) vergeben als Ehrenjury den Finalredepreis auf der Deutschsprachigen Debattiermeisterschaft 2019. Links Leo Fischer (Publizist, ehem. Chefredakteur der "Titanic"); rechts die Debattiererin und Rhetoriktrainerin Sarah Andiel, die ebenfalls in einer Nebenrolle und beratend bei "Contra" mitmirkte.
Farooq und Wortmann (Mitte) vergeben als Ehrenjury den Finalredepreis auf der Deutschsprachigen Debattiermeisterschaft 2019. Links Leo Fischer (Publizist, ehem. Chefredakteur der “Titanic”); rechts die Debattiererin und Rhetoriktrainerin Sarah Andiel, die ebenfalls in einer Nebenrolle und beratend bei “Contra” mitmirkte.
Finalmoderator sowohl der fiktiven Deutschen Meisterschaft in "Contra" als auch der realen Deutschsprachigen Meisterschaft 2019 (zu sehen im Foto): Willy Witthaut, Debattieralumni aus Mainz.
Finalmoderator sowohl der fiktiven Deutschen Meisterschaft in “Contra” als auch der realen Deutschsprachigen Meisterschaft 2019 (Foto): Willy Witthaut, Debattieralumni aus Mainz.

Aber trotzdem: Wie ist es denn nun, als Debattierer “Contra” anzuschauen? Als jemand, der wirklich debattiert, einen Film über das Debattieren zu betrachten (in der Tradition beispielsweise von Schachspielern, die “Queens Gambit” kommentieren)?

  • Wie ist “Contra” insgesamt? Geschmack ist bekanntlich subjektiv, so ist dann auch mein Urteil in dieser (noch nicht debattierspezifischen) Kategorie zu betrachten. Ich sage mal so: Die Story ist…. gewagt. “Uniprofessor (Christoph-Maria Herbst als Richard Pohl) beledigt muslimische Studentin (Nilam Farooq als Naima Hamid) öffentlich auf übelste Weise und soll sie zur Wiedergutmachung auf einen Debattierwettbewerb vorbereiten”, damit ist alles gesagt. Viele Gags bauen auf der Prämisse auf, dass Maria-Herbst politisch unkorrekte Dinge sagt und man (mit ironischer Distanz?) drüber lacht. Daneben gibt es andere gute (und weitere maue) Gags, aber kein Humor-Feuerwerk. Auch der dramatische Aspekt einer Tragikkomödie bleibt dezent. Die schauspielerische Leistung von Farooq, Maria-Herbst oder auch Hassan Akkouch holt viel raus. Die geschriebenen Reden sind schön (dazu später mehr). Kamera und Licht sind toll; ich habe deutsche Unihörsäle und ICE-Reisen noch nie in so vorteilhaften Einstellungen gesehen. Alles in allem verlässt man schon unterhalten den Saal; nachhaltig in die deutsche Kinogeschichte eingehen wird “Contra” hingegen eher nicht.

Aber was ist nun mit der Darstellung des Debattierens?

  • Über Hochschuldebattieren als Sport: Gibt es das überhaupt? Ja, gibt es. Das ist ja aus dem restlichen Artikel hier auch schon ersichtlich. Und das tatsächlich besteht der Debattiersport aus Pro- und Contrareden (wobei die Contrareden gegen Hamid in dem Film sehr kurz kommen oder bewusst schlecht gehalten sind) mit geloster Zuordnung zu gesellschaftlichen und politischen Fragen. Darüber hinaus stellt der Film bereits gut da, dass der Sinn hinter diesem Sport neben der rhetorischen Schulung darin besteht, Themen aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten. Im Film wird das nur etwas ungelenk mit “alternativen Wahrheiten” ausgedrückt. Eigentlich spielen Debattierthemen aber da, wo es keine eindeutigen Wahrheiten gibt, wo beide Seiten legitime Argumente haben.
  • Über den Stellenwert des Debattierens: Ich sage mal so: Dass der Rektor (!) einer Universität eigenhändig eine Debattiermeisterschaft in Vorlesungen bewirbt, dass Studierende (gefühlt sogar fast mehrheitlich Frauen) begeistert zu hunderten die Flyer dazu nehmen und mitmachen (wobei Hamid dann augenscheinlich doch nur gegen eine einzige andere Jurastudentin der Universiät im Vorentscheid antritt?), dass selbst Achtel-, Viertel- und Halbfinals vor brechend vollen Hörsälen stattfinden– all das würde ich mir im realen Debattieren wünschen. Das deutschsprachige Hochschuldebattieren hat hunderte, wenn nicht sogar tausende Mitglieder, aber soo bekannt ist es dann auch wieder nicht.
  • Über die Organisation des Debattierens: Im Film wirkt es so, als ob die deutschen Unis selbst das Debattieren – um eine gemeinsame Meisterschaft herum organisiert – gestalten. In Wahrheit gibt es an dutzende Debattiervereine, die meist als Hochschulgruppen das Debattieren an ihrer jeweiligen Universität auf die Beine stellen. Wie viele andere Hochschulgruppen rekrutieren sie Nachwuchs, veranstalten Treffen und organisieren Turniere. Unterstützt von den Unis werden sie dabei aber eher sekundär.
  • Über Debattierturniere: Im Zentrum von “Contra” steht eine Deutsche Debattiermeisterschaft. Die gibt es real auch, heißt jedoch strenggenommen “Deutschsprachige Debattiermeisterschaft”, weil in unserem Verband auch österreichische und Schweizer Debattiervereine dazugehören. Am meisten schmunzeln muss man als Debattierer (und bei genauerem Nachdenken genauso als neutraler Zuschauer) über das Format der fiktiven Meisterschaft: Da findet also jede KO-Runde an einer anderen Uni statt– das Achtelfinale in Heidelberg, das Viertelfinale in Berlin, das Halbfinale in Köln und das Finale in Frankfurt. Wie muss man sich das vorstellen? Reist dann ein Hamburger Vertreter acht Stunden nach Heidelberg, um an einer Debatte von wenigen Minuten (mehr dazu unten) teilzunehmen, die er womöglich verliert, um dann wieder 8h zurück zu fahren? Warum sollte man überhaupt das Turnier nicht an einem Tag und einem Ort machen? So läuft es – Überraschung – in der Realität ab. Deutschsprachige Meisterschaften finden meist an langen Wochenenden, drei bis dreieinhalb Tage lang statt. Dazu kommen im Übrigen viele weitere Turniere – von den Regionalmeisterschaften zu kleinen Clubturnieren der Deutschen Debattierliga.
  • Über Debattierthemen: “Kleidet die Kutte den Mönch?”– spoiler: Dieses Thema des Frankfurter Vorausscheides in “Contra” wurde noch nie im deutschsprachigen Debattieren besprochen und ließ uns beim Fimschauen belustigt-irritiert zurück. Andere Themen hat Wortmann aber tatsächlich aus der Realität übernommen: Schockbilder auf Fleischverpackungen (ZEIT DEBATTE Hamburg 2013, Vorrunde 4), der “Elternführerschein” (Turnier habe ich nicht gefunden, ist aber ein Klassiker) oder auch die Einführung / Abschaffung der Todesstrafe (von internationalen, englischen Turnieren). Ob diese Themen nun repräsentativ sind, sei mal dahingestellt, das ist mit einer Handvoll Beispiele aber auch schwer möglich. Im echten Debattiersport kommen schon häufiger auch Fragen aus dem aktuellen politischen Diskurs vor und nicht nur Themen wie der Elternführerschein, über den man schön nachdenken kann, den aber in der Wirklichkeit keine Partei in ihrem Wahlprogramm fordert.
  • Über die Debattenvorbereitung: Naima Hamid geht zum Vorbereitung ihrer Reden in eine wunderschöne alte Bibliothek und zieht kunstvoll alte Wälzer aus dem Regal. Später zitiert sie die Bibel oder aktuellste Studien. Tatsächlich ist es im Schülerdebattieren üblich, dass Teams sich tagelang auf ihr Thema vorbereiten dürfen. Im Hochschuldebattieren beträgt die Vorbereitungszeit hingegen 15 Minuten und digitale Hilfsmittel sind verboten. Es geht also nicht darum, Studien zu finden (die im Publikum ohnehin niemand live überprüfen und nachvollziehen könnte), sondern um Argumente aus dem logischen Menschenverstand. Immerhin: In unserer Szene gibt es unter Alumni tatsächlich die Anekdote, dass sich ein Team früher tanzend auf Debatten vorbereitete. Ob das die Quelle war, wodurch dies (als Geheimtipp von Professor Pohl an Hamid) auch seinen Eingang in “Contra” fand, weiß ich aber nicht. Schön ist es auf jeden Fall.
  • Über Debattenablauf, -format und -reden: Wie genau die Debatten in “Contra” ablaufen, ist nicht leicht nachzuvollziehen, weil wir immer nur Ausschnitte davon sehen– meist nur die Reden Hamids. Es scheinen aber Duelle im 1vs.1 zu sein, mit Reden von wenigen Minuten Länge; die von Juries auf ihre rhetorische Überzeugungsleistung hin bewertet werden. In Wirklichkeit gibt es unzählige Debattierformate und -regelwerke, mit unterschiedlichem Debattenablauf und Bewertungskriterien. Im deutschsprachigen Hochschuldebattieren üblich sind eigentlich ein 2vs.2vs.2vs.2 (der international gängige “British Parliamentary Style”) oder ein 3vs.3 (die “Offene Parlamentarische Debatte”) sind. Dadurch kommt ein Teamarbeitsaspekt hinzu, der im Film fehlt; außerdem gehen Debatten dann etwas länger als die unbefriedigenden wenigen Minuten, die sie im Film realistisch nur dauern können. Moderation, Jurys und Reden sind dafür aber durchaus realistisch, finde ich. Zu den Reden habe ich auch andere Meinungen von Mitdebattierern gehört (vor allem wurde zu wenig argumentativer Gehalt bemängelt), aber in meinen Augen sind die Reden echt elegant getextet (vielleicht sogar etwas zu elegant für freie Rede).
  • Über die Debattierausbildung und -entwicklung: In diesem Bereich ist “Contra” nicht so weit weg von der Realität. Die reale Debattierausbildung enthält etwas weniger Aristoteles und Cicero sowie weniger sprachlich-rhetorische Stilmittel mit lateinischen Namen, dafür mehr debattiereigene Theorie und Ausbildung auch im Argumentieren; sie wird ferner nicht von Professoren gestemmt, sondern von älterern Debattierern und viel auch einfach durch praktisches Reden anstatt reiner Trockenübungen. Aber beispielsweise die Ballonfahrt-Übung stammt aus realen Rhetorikworkshops. Was ich ebenfalls sehr schön dargestellt (wenn vielleicht in der Lernkurve etwas übertrieben) fand, war die Entwicklung von Hamid von nervös-hibbeligen zu gefestigt-souveränen Auftreten mit zunehmender Erfahrung. Wobei eine Mitdebattantin anmerkte: “Selbst in ihrer letzten Rede hat sie immer noch geschwankt ;)”

Was soll man also am Ende aus “Contra” machen? Den Debattiersport stellt der Film nur in seinen Grundzügen realistisch dar; im Detail hapert es an vielen Stellen. Fairerweise haben Filmschaffende wie Wortmann dabei nun einmal Einschränkungen– sei es in der Dramaturgie der Story, sei es in der Kürze der 105 Minuten und sei es, weil vielleicht die Deutsche Bahn in diesen 105 Minuten mehr Fahrten durch die Bundesrepublik zeigen wollte. Am Ende muss man als Debattierer auch einfach mal froh sein, dass der eigene Sport – zumal auf solche durchaus wohlwollende Art und Weise – überhaupt auf die Leinwand kommt.